Die ersten zwei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts zählen zu den bemerkenswertesten Epochen der Musikgeschichte überhaupt. In jener Zeit verloren musikalische Regeln ihre Gültigkeit, die über Jahrhunderte praktisch unantastbar gewesen waren, das Denken und die Werte des Romantismus verblassten, während parallel dazu etwas Neues entstand, das bisweilen radikal alles Alte negierte, bisweilen die ursprünglichen Werte mit neuen Mitteln reflektierte. Es war eine Epoche des Sterbens und des Geborenwerdens. Diese Stimmung tritt nicht nur in der Musik zutage, sondern auch in der bildenden Kunst, im Theaterschaffen und in der Literatur. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verklingen in der Musik die dekadenten Äußerungen des Romantismus, seinen Höhepunkt und anschließenden Abstieg erlebt der Verismus, mit neuen, unwiederholbaren Ausdrucksformen betreten der Symbolismus, der Impressionismus oder der musikalische Realismus die Bühne. Den Gegenpol dazu bildet der Expressionismus, welcher mit seiner Atonalität die klassische melodisch-harmonische Ordnung außer Kraft setzt, oder die gänzlich neue Organisationsform der Zwölftonmusik. Dagegen wenden sich Neofolklorismus oder Neoklassizismus wieder barocken und klassizistischen Formen zu. Dies ist die Ära der Moderne und der beginnenden Avantgarde – und das alles in einem Zeitraum von gerade einmal zwei Jahrzehnten. Nie wieder werden die Konzert- und Theatersäle so viele Skandale und so hitzige Diskussionen erleben. Und gerade dieser unwiederholbaren Epoche widmet sich das Festival Janáček Brno 2020. Alle genannten Tendenzen werden auf dem Festival vertreten sein, sei es in Bühnenstücken oder Konzertwerken, und dem Publikum diese Epoche des künstlerischen und gedanklichen Aufbruchs näherbringen. Und Leoš Janáček? Der ging in dieser ungestümen Zeit ganz unbeteiligt seinen eigenen Weg, ohne sich eindeutig irgendeiner der neuen Strömungen anzuschließen. Doch lassen wir uns nicht täuschen. Janáček verfolgte aufmerksam alles, was sich um ihn herum in der Kunst tat, und studierte die Entwicklungen oft auch recht intensiv. Viele der neuen Ausdrucksformen fanden zumindest latent Eingang in sein Werk. Alle Repräsentanten der musikalischen Strömungen jener Zeit, darunter Strauss, Debussy, Mahler, Schönberg, Strawinsky, Bartók und selbstverständlich auch Janáček, haben eines gemeinsam – einen enormen Drang, neue Wege zu suchen, und ihre Sicht der Welt in eine ganz eigene musikalische Sprache zu fassen. Manche fanden Konzepte, die der Musik über das ganze 20. Jahrhundert hinweg eine neue Richtung geben sollten, andere, wie etwa gerade Janáček, beschritten einen so individuellen und unwiederholbaren Weg, dass dieser heute keine Fortsetzung mehr zulässt. Dieses große Abenteuer möchte das Festival Janáček Brno 2020 seinen Besuchern näherbringen.